Achterbahn

Nur noch ein paar Stunden, dann bin ich da. Wie wird das alles werden? Was werden wir machen? Gehen wir mal aus, lerne ich Einheimische kennen? Hoffentlich wird es nicht langweilig, weil ich so ein ruhiger Charaktertyp bin. Was, wenn ich abends schon zeitig müde bin, dann bin ich doch zu nichts mehr zu gebrauchen. Was, wenn der erste Eindruck ganz anders war als es in Wirklichkeit ist? 

Fragen überschlagen sich in meinem Kopf. Ich schlafe schlecht und bin angespannt.

Circa eineinhalb Wochen bin ich dort, genau genommen ganze zehn Tage. Was, wenn es schwierig wird? Wenn ich zu anstrengend bin? Weil ich zum Beispiel so zeitig wach bin und abends eher müde oder weil ich gern draußen sein will. Oder eben einfach, weil ich so bin wie ich bin. Oh mann, das wird bestimmt passieren!

Okay, vielleicht sollte ich mir ein-zwei Notfalloptionen bereithalten. Ich könnte schon eher gehen und auf meinem Weg zum Reiseziel noch für ein paar Tage einen Zwischenstopp einlegen. Dann wären es keine zehn Tage mehr, sondern vielleicht nur noch sieben. 

Ich bin innerlich total zerrissen. Eigentlich freue ich mich total auf die bevorstehenden Tage, doch die vielen Ängste verunsichern mich stark.

Jetzt wird’s ernst.

Ich verlasse den Bus und setze meinen Fuß auf den italienischen Boden.

Wow, ist das toll, wieder hier zu sein!

Wärme und Kribbeln durchströmen meinen Körper. Ein Strahlen verteilt sich über’s ganze Gesicht.

Okay, ich schaffe das. Los geht’s!

Zuerst mit der Tram, dann zu Fuß, geht es durch die Stadt. Eineinhalb Stunden um halb sechs am Morgen. Willkommen in meinem Leben! Ich genieße die Ruhe, kann mitten auf der Straße laufen ohne Angst haben zu müssen, überfahren zu werden. Überall sind die Fenster dunkel, immer mal wieder laufe ich an Matratzen vorbei, auf denen Menschen bis über die Ohren zugedeckt liegen und sich vor der Kälte schützen. Habe ich Angst? Nein. Warum nicht? Weil ich mich hier sicher fühle und im Notfall zu verteidigen weiß.

Gleich komme ich an. Ohje, hoffentlich wird alles gut und schön. 

Anruf. Keine Reaktion. Klingelschild? Verdammt, ich weiß den Nachnamen nicht. Noch ein Anruf. Wieder nichts. Noch zwei Anrufe. Keine Reaktion. Was mache ich denn jetzt?? Blick nach links, Blick nach rechts. Denk‘ nach! Nochmal anrufen. Was anderes bleibt ja nicht. „Ciao!?“ – Hey, würdest du mir bitte bitte die Tür aufmachen? Es ist voll kalt hier draußen.

Klack. Bumm. Tap, tap, tap, vierundvierzig Stufen nach oben.

Endlich angekommen. 

Wir freuen uns gegenseitig sehr, uns wiederzusehen. Ich mache mich kurz frisch, stelle den Rucksack in die Ecke und bekomme die Möglichkeit, nochmal für ein paar Stunden zu schlummern.

Augen auf, Blick auf die Uhr. Um Himmels Willen, es ist halb elf! So spät, da ist ja der halbe Tag schon verschwendet. Jetzt muss ich aber schnell fertig werden. Wow, hier riecht es voll nach Gras. Ach, weiß ich ja noch vom letzten Mal, hier wird drinnen gekifft. Hm, davon krieg ich ganz schön Kopfschmerzen und Beklemmungen. Soll ich was sagen? 

Ich fasse mir ein Herz und spreche es an.

„Das Rauchen hier drinnen ist sehr unangenehm für mich. Meinst du denn, dass wir einen Kompromiss finden können? Vielleicht kannst du am offenen Fenster rauchen? Oder in einem Raum, wo ich gerade nicht bin?“

Der Vorschlag wird eigentlich ganz gut aufgenommen. Es dauert keine zehn Minuten, schon wird der nächste Joint angezündet. Ich bin eigentlich gerade dabei einzuschlafen. Dann ziehe ich eben die Decke über den Kopf und versuche es so. Doch nach ein paar Sekunden bin ich an diesem sicher geglaubten Ort auch nicht mehr vor dem Rauch gefeit. Ich schnappe meine Flasche, ziehe die Hauslatschen an und verabschiede mich mit einem kurzen „Sorry, aber diese Luft halte ich nicht aus“ in die untere Etage des Appartments. Dort wird der Schlafsack ausgerollt und die Kapuze über den Kopf gezogen. Die Gedanken rasen. War das zu übertrieben? Bin ich zu strikt? Naja, eigentlich habe ich ja klar kommuniziert, dass das sehr unangenehm für mich als Nichtraucherin ist. Ich habe für mich eingestanden und gesorgt. Wow, ich bin enorm stolz auf diesen großen Schritt!

Das Einschlafen ging dann ganz schnell.

Neuer Tag, neuer Start. Tief durchatmen. Der Himmel ist frei von Wolken; die Sonne steigt gemächlich nach oben. Wie super! Ich mache mich fertig und genieße das warme Porridge. Jetzt könnte es direkt losgehen. Mit einem kleinen Unterschied: Ich verbringe Zeit mit jemand einheimischem. Oben im Schlafzimmer ist es noch dunkel, einen zweiten Schlüssel sehe ich nirgends und einfach weggehen will ich auch nicht. Also lege ich die tägliche Italienisch-Session ein, lese, recherchiere. Nach ein paar Stunden regt sich langsam etwas. Erstmal runterkommen, Kaffee kochen, frühstücken, neuen Kaffee kochen. Dann wird sich ins Badezimmer verabschiedet, „Ich geh‘ nur nochmal kurz auf’s Klo, in fünf Minuten können wir losmachen.“ Nach zehn Minuten wird nochmal durch die Wohnung gerannt und Zeug zusammengerafft. „Ich muss noch schnell duschen.“ Fünfzehn Minuten später geht die Badtür wieder auf, nach weiteren zehn Minuten verlassen wir das Haus. 

„Wir müssen nochmal schnell zur Arbeit.“ Aha, okay. Ich helfe mit, die Betten zu beziehen, den Boden zu wischen und kaufe Schokolade und Wasser für die neu anreisenden Gäste des Airbnb’s ein. Stundenlang verbringen wir in dem dunklen Appartment, ich werde hin- und hergescheucht, fühle mich stark untergeordnet – so wie jemand, der nichts zu sagen, sondern nur zu machen hat. Meine inneren Bedürfnisse schreien: „Ich will raus! Tageslicht! Frische Luft! Durchatmen!“ Es fühlt sich an, als ob sich meine Kehle zuschnürt. Wegen all‘ der unangenehmen Emotionen, die schon seit Tagen in meinem Körper Achterbahn fahren und die ich jedes Mal herunterspiele.

Eigentlich wollten wir am Abend mit Freunden ausgehen. Aber irgendwie wurde das dann nichts. Hocken wir eben wieder Zuhause rum, mein Gegenüber ununterbrochen am PC, fokussiert auf Geld und Arbeit und mental total abwesend. 

Mir ist nicht langweilig, ich habe tausend Sachen zu tun. Aber die kann ich alle auch machen, wenn ich allein unterwegs bin. Ich habe mich so sehr auf die gemeinsame Zeit gefreut, auf Ausflüge, Freunde treffen, Stadt erkunden, draußen sein. Dass ich mit niemandem in Kontakt komme, mich einkiffen lasse, versuche alles recht zu machen und trotzdem nicht genug bin – damit habe ich nicht gerechnet. 

Von Tag zu Tag schlafe ich schlechter, werde immer unruhiger, ziehe mich mental mehr und mehr zurück. Meine Gefühle stauen sich an, aber ich gebe ihnen nicht die Möglichkeit, nach außen zu treten. Ich unterdrücke sie, weil ich somit die Kontrolle behalte.

Den Höhepunkt stellt der letzte Tag des Jahres dar, der so viele unschöne Ereignisse mit sich bringt, dass ich mit einem Mix aus Wut und Traurigkeit mehrere Stunden wach liege und versuche, einzuschlafen. So kann das nicht weitergehen! Ich mache mich kaputt, wenn ich noch länger hier bleibe. Was soll ich nur tun?? Ich kann doch nicht einfach gehen! Das wäre eine Arschlochnummer.

NEIN! Wäre es nicht. Ich muss auf mich und meine Gesundheit aufpassen. Sich aufzuopfern zählt nicht dazu.

Ich schreibe einigen meiner Freunde, die ich in der Stadt oder der Umgebung habe. „SOS, hast du kommende Nacht einen Schlafplatz für mich frei? Ich muss hier raus und brauche nur ein Dach über dem Kopf.“

Leider nein. Die meisten leben auf engem Raum, der gerade einmal für sie selbst reicht. Zum Glück finde ich ein Hostel, das ich für diese Nacht buchen kann. Wie es danach weitergeht? Keine Ahnung. 

Ich packe also morgens schnell und leise meinen Rucksack, schließe die Tür und verlasse das Haus. Mit starkem Herzklopfen, großen Schritten und Blick nach vorn steuere ich die Ferne an. Es kann nur noch besser werden! Mama, Papa und eine sehr gute Freundin stehen mir emotional zur Seite. Sie sind für mich da, hören zu und schildern ihre Außenperspektive.

Ich habe nichts falsch gemacht und bin auch kein schlechter Mensch, wenn ich jetzt gehe, weil es mir nicht guttut.

Alles, was der erste Tag des Jahres dann bringen sollte, war wunderbar und zeigt mir, wie wichtig es ist, gut auf sich aufzupassen und auf das Herz zu hören! Ich freue mich auf alle bevorstehenden Begegnungen und Erfahrungen, die herausfordernd aber letztendlich sehr bereichernd sein werden.

Es geht mir (wieder) gut – molto bene! 

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