Wir sitzen auf der Terrasse eines Einfamilienhauses in einem kleinen portugiesischen Dorf. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es weht ein angenehmes Lüftchen. Ich schaue zu Tinka rüber, sie reckt ihr Gesicht mit einem zufriedenen Grinsen der Sonne entgegen. „Mitte Januar, zwanzig Grad, T-Shirt und Sneakersocken – ich habe schon schlimmere Winter erlebt.“ Eigentlich hat sie recht – das ist gerade ein kleiner perfekter Moment.
Du hast eine unglaublich starke Verbundenheit zur Natur. Woher kommt das?
Ich denke, das liegt vor allem in meiner Persönlichkeit, aber auch daran, wie ich aufgewachsen bin. Meine Eltern haben mich immer mit raus geschleppt: Spaziergänge, Wanderurlaube, Fahrradtouren, Geocaching. Und da war es egal, bei welchem Wetter. Damals habe ich gemotzt ohne Ende, aber irgendwie haben sie es doch geschafft, mich für’s Draußen- und Aktivsein zu begeistern.
Hängt dein nachhaltiger, vegetarischer und minimalistischer Lebensstil damit zusammen?
Der erste Anstoß kam eigentlich durch die Einladung zum „Umwelttag“ einer Klassenkameradin. Sie hat mit ihren Eltern eine Schnitzeljagd rund um meine Heimatstadt organisiert. Wir waren den ganzen Tag draußen unterwegs, haben Rätsel gelöst, mit der Natur „gespielt“ und nebenbei allen Müll eingesammelt, den wir auf unserem Weg finden konnten. Am Ende hatten wir mehrere 50-Liter-Säcke, in denen Plastikverpackungen, Telefonbücher, Kleidungsstücke, Glas, Aluminium und Spielzeug dabei waren. Sogar alte Autoteile haben wir gefunden. Das hat mich ganz schön zum Nachdenken gebracht.
Das Auseinandersetzen mit unserem Konsumverhalten und der Umweltverschmutzung durch die Menschen haben mich letztendlich mein eigenes Verhalten überdenken und ändern lassen.
Kommt es dir nicht so vor, dass du als einzelner Mensch überhaupt nichts am System ändern kannst?
Natürlich kann ich als Einzelperson das große Ganze nicht ändern. Aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Jeder von uns sollte im eigenen Leben schauen, was er oder sie zum Besseren beitragen kann. Ich habe mich damals zum Beispiel dafür entschieden, mich vegetarisch und hauptsächlich pflanzlich zu ernähren. Zum Einkaufen bin ich immer mit Tüten und einer klaren Liste gegangen, genauso zum Bäcker mit einem Stoffbeutel; Obst und Gemüse habe ich auf dem Wochenmarkt gekauft. Ich bin Mitglied bei Foodsharing e.V. und rette manchmal Lebensmittel mit TooGood2Go. Wenn einzelner Müll herumliegt und ich die nächste Mülltonne schon sehen kann, dann hebe ich ihn auf und entsorge ihn ganz einfach zehn Meter weiter. Tatsächlich konnte ich durch solche Dinge und Verhaltensmuster schon einige Leute inspirieren.
Du strahlst allgemein große Zuversicht und Optimismus aus. Woraus schöpfst du deine Kraft?
Ich bin seit zwei Jahren auf Reisen. Dabei verbringe ich sehr viel Zeit in der Natur, bin gern aktiv, wandere und pilgere, treffe auf unbekannte Kulturen und Menschen aus aller Welt. Das Entdecken, Ausprobieren und das Neue lassen mich ständig in Kontakt mit mir treten und mich neu kennenlernen. Das schenkt mir unglaublich viel Kraft. Aber auch Dankbarkeit, Unterstützung durch meine Familie und engsten Freunde, Zeichnen, Schreiben und Lernen geben mir viel Energie. Seit einigen Monaten lerne ich zum Beispiel Italienisch.
Du hast das Reisen erwähnt. Bei dem Gedanken an welche Situation musst du immer noch schmunzeln?
Oh, da gibt es einige. Aber einen Moment habe ich gerade direkt vor Augen:
In der Fußgängerzone von Mailand stehen zwei Leute, die ehrenamtlich bei einer gemeinnützigen Organisation arbeiten und auf sich aufmerksam machen wollen. Da mich solche Leute schon oft genug eingewickelt haben, möchte ich dieses Mal nicht, dass mir so etwas nochmal passiert. Einer von beiden hat mich schon aus zwanzig Metern Entfernung erspäht. Als ich in Reichweite bin, geht’s auch schon los: „Buongiorno, sprichst du Italienisch?“ Kopfschütteln. „Ooooh, dann sprichst du Deutsch!“ Kopfschütteln. „Wiiiiie bitte, du sprichst kein Deutsch? Na dann kannst du ja nur Schwedin sein!“
Es ist wirklich unglaublich, dass ich überall sofort als Deutsche erkannt werde! Manchmal tue ich so, als wäre ich nicht deutsch. Dann ist mein Gegenüber immer ratlos. Ich sage nur: blond und blauäugig!
Gibt es auch eine Situation, in der du Angst hattest?
Ja. Ich wollte unbedingt das höchste Gebirge von Portugal entdecken, wo die Gipfel bis zu 2.000 m hoch sind. Zu der Zeit, als ich dort war, lag oben Schnee. Bei einer meiner Wanderungen hat mir ein kilometerlanges Schneefeld „den Weg versperrt“. Der Aufstieg war so steil, dass Umdrehen keine Option mehr war. Also musste es vorwärts weitergehen. Ich bin bei jedem Schritt fast komplett bis zur Hüfte eingesunken, hatte Herzrasen und Todesangst. Da war einfach nichts und niemand zu sehen! Mein Leben gerettet haben Steinfiguren, die entlang der Wanderwege aufgetürmt werden, für dem Fall, dass die farbigen Markierungen nicht mehr erkennbar sind. Man konnte ihre Form selbst unter dem Schnee noch etwas erkennen. Als ich nach stundenlangem Durchkämpfen dann endlich auf einer großen Asphaltstraße angekommen bin, habe ich vor Erleichterung einen so starken Heulanfall bekommen, dass ich mich ewig nicht beruhigen konnte. Hallelujah, ich bin am Leben!
Stichwort PILGERN. Wie muss man sich das bei dir vorstellen?
In den vergangenen zwei Jahren bin ich zwei Pilgerwege gelaufen. Der allererste war die Rota Vicentina im Süden von Portugal. Eine ziemlich spontane Idee ohne irgendwelche Vorplanung oder Vorahnung – einfach losgelaufen. Und die Erfahrung war so klasse, dass ich zwei Monate später den Camino Portugues von Porto nach Santiago de Compostela gelaufen bin. Eigentlich ist es ganz einfach vorzustellen: Ich laufe gern zeitig los, mache kleine Pausen zwischendurch, suche mir am Tagesziel eine Pilgerherberge und schaue mir entweder noch die unmittelbare Umgebung an oder entspanne etwas. Dabei kommt man automatisch mit Gleichgesinnten in Kontakt.
Mit diesem einfachen Leben hat man den Fokus auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben gerichtet: Trinken, Essen, Schlafen, Bewegung, Erholung und soziale Kontakte.
Gibt es denn sonst noch Dinge von deiner WANT-TO-DO-Liste, die du bereits umgesetzt hast?
Klar! Ich bin mit einem Gleitschirm über die Alpen geflogen und habe auf einem Berghof in Italien gelebt und gearbeitet, der auf 2.000 m Höhe liegt.
Wie fühlt sich das an, so ganz allein unterwegs zu sein? Du hast ja quasi kein Zeitlimit und trägst alles, was du zum Leben brauchst, auf deinem Rücken.
Das ist eine unglaubliche Freiheit! Ich bin vollkommen ungebunden und folge meinem Weg so, wie er mich führt. Natürlich klingt das jetzt alles sehr leicht. Das ist es oftmals nicht. Man muss mit einem solchen Lebensstil viele Kompromisse eingehen, Abstriche machen, flexibel sein und sich täglich komplett neu organisieren. Ständig stehen die Fragen im Raum: „Wo schlafe ich heute Nacht? Wie komme ich zu meinem Reiseziel? Was möchte ich machen? Wonach fühle ich mich gerade?“ Aber trotzdem ist es mir das wert. Was man zurückbekommt und dazugewinnt ist einfach enorm!
Fehlt dir auch etwas?
Um nur einiges zu nennen: die körperliche Nähe zu meinen liebsten Menschen, einen sicheren Rückzugsort, eine vertraute Umgebung, meine Lieblings-Jogginghose, das bunte Gewürzregal, die Yogamatte, Duftkerzen, die deutsche Brotkultur. Ich kann manche Dinge auf Reisen einfach nicht haben. Das meiste davon ist auch nicht lebensnotwendig. Aber es sind Dinge, die mir persönlich wichtig sind. Durch das Reisen habe ich gelernt, dass all‘ das, was wir schnell als selbstverständlich ansehen, überhaupt nicht selbstverständlich ist.
Du folgst deinem Bauchgefühl – das hat dich bis jetzt noch nie getrogen. Wahrscheinlich ist dir noch gar nicht klar, wie es auf deinem Weg weitergehen wird. Oder etwa doch?
*grinst*
Aktuell ist alles sehr klar. Natürlich ohne genaue Zeitangaben, aber ich weiß in etwa, wie die nächsten Monate und der Sommer aussehen werden. Und ich freue mich tierisch drauf!




