Du heißt Tinka. Du bist 24 Jahre alt. Staatsangehörigkeit: Deutsch. Du reist viel und kommst mit den unterschiedlichsten Menschen, Sprachen und Kulturen in Kontakt.
Du bist eine junge Frau, die allein unterwegs ist. Pass‘ bloß auf, dass dir nichts passiert. Sei vorsichtig, aber nicht zu schüchtern. Geh‘ auf die Leute zu, aber nerv‘ sie nicht.
Du solltest dich in dem Land, in dem du gerade bist, anpassen. Nur nicht so weit, dass du deine Wurzeln verlierst.
Wann wirst du wieder arbeiten? Schließlich kannst du ja nicht ewig das Leben genießen und rumziehen. Du musst an später denken, darfst nicht leichtsinnig oder naiv sein.
Aber richtig, du bist ja erst vierundzwanzig. Da ist alles noch so leicht. Wenn du dann erstmal Verpflichtungen hast ist es vorbei, dann ist alles anders.
Heiraten wirst du, und ein Haus bauen. Kinder wirst du natürlich auch kriegen. Aber bloß nicht zu viele.
Es ist wichtig, die Freundschaften zu pflegen und ein gutes Verhältnis zur Familie zu haben. Melde dich regelmäßig und lass‘ was von dir hören, geh‘ den Leuten aber auch nicht auf die Nerven. Schließlich hat ja jeder seinen Alltag und all‘ die Termine und Verpflichtungen.
Diskutiere nicht so viel, lass‘ dir aber auch nicht alles gefallen. Du musst stark sein, sollst aber gleichzeitig auch Schwäche zeigen können.
Sehr wichtig ist, dass du dich selbst reflektierst und bewusst bist. Überdenke doch bloß nicht alles, und plane nicht so viel. Du musst flexibel sein, aber gar keinen Plan solltest du niemals haben.
Bewege dich, aber nicht zu wenig und nicht zu exzessiv. Esse gesund, und gönn‘ dir was. Natürlich alles in Maßen.
Vergleiche dich nicht mit anderen. Nimm‘ dir aber bitte ein Beispiel an XY. Und überlege dir genau, was du sagst und tust. Heutzutage musst du vorsichtig sein.
Du gehörst zu der Generation, der alles egal ist und in der es kein WIR mehr gibt. Ihr seid ferngesteuert und antriebslos, hängt nur noch am Smartphone und habt null Bock. Was soll denn nur aus dieser Welt werden?
Es ist wichtig, dass du dich meldest, wenn du wo hin gehst.
Du solltest rausgehen, Leute treffen, in Kontakt kommen. Dich nicht isolieren. Das bedeutet aber nicht, dass du die ganze Zeit Party machen kannst. Es ist wichtig, Reife zu zeigen und wie eine Erwachsene zu handeln. Doch verlier‘ niemals den kindlichen unbeschwerten Teil in dir. Aber sei auch nicht kindisch und hab‘ dich nicht so, wenn mal etwas schief läuft.
Sei nicht stur, sei nicht unartig. Auch nicht zu lieb, denn dann wirst du nur ausgenutzt.
Denke an andere, aber vergiss‘ dich selbst nicht dabei. Sorge gut für dich, aber sei bloß nicht egoistisch.
Tu‘ was Gutes – kaufe unverpackt, sammle Müll, spende Geld oder Kleidung, engagiere dich ehrenamtlich. Fahre Fahrrad, Bus und Zug. Ernähre dich pflanzenbasiert. Doch pass‘ auf, dass du nicht zur Ökotante wirst.
Ach ja, ganz wichtig: du bist deutsch. Das heißt, du hast pünktlich, fleißig, ordentlich und anständig zu sein. Du isst gern Kartoffeln, Sauerkraut oder Brot, warst schon auf dem Oktoberfest und gehst gern wandern. Du planst alles und bist sehr vernünftig. Risiken gehst du kaum ein.
Wahnsinnig
In der heutigen globalisierten und digitalen Welt gibt es unzählige Stereotypen und Erwartungen. Mit den vorangegangen Worten möchte ich ein paar jener anbringen, mit denen ich mich regelmäßig auseinandersetzen muss.
Oftmals entsteht regelrecht das Gefühl, dass man sich als junger Mensch ständig erklären muss und kaum eine Stimme hat.
Ich möchte keinesfalls in eine Opferrolle verfallen, denn das wäre unangemessen. Wir alle haben einen Einfluss darauf, was wir an uns heranlassen und wie wir unser Leben gestalten.
Trotzdem ist das oftmals ziemlich schwer. Weil von allen Seiten unterschiedliche Sichtweisen an dich herangetragen werden. Jeder weiß ganz genau, was richtig und was falsch für dich ist. Viele Menschen mischen sich in das Leben von anderen ein, kennen aber die Hintergründe, Gefühle, Gedanken und Werte des Gegenübers gar nicht.
Vielleicht hilft dabei meine Erfahrung von neulich:
Ich lerne Paola, Ende vierzig, auf dem Pilgerweg nach Rom kennen. Für fast eine ganze Woche sehen wir uns täglich in der Gemeinschaftsunterkunft. Sie hat eine Persönlichkeit, die sehr viel Raum einnimmt und Aufmerksamkeit einfordert.
Oftmals mischt sie sich in Gespräche ein und teilt ihre persönlichen Erfahrungen und Sichtweisen ganz ungefragt.
Als wir mit einer Gruppe anderer Pilger zusammen in die Bar nebenan gehen, um den Tag gemütlich ausklingen zu lassen, wird dieser Abend letztendlich sehr herausfordernd für mich.
Im Gespräch beginnt sie, meine Art, wie ich als Pilgerin unterwegs bin, meine Persönlichkeit, Sichtweisen und bisherigen Erfahrungen zu kritisieren. Ich sei zu unflexibel, wenn ich am Tag vorher mein Bett für die kommende Nacht reserviere. Ich sei noch viel zu jung, um etwas vom Leben zu wissen oder Erfahrungen teilen zu können. Ich wolle alles erklären und soll das doch lassen, als ich die Männer nach den Unterschieden zwischen ihren Bieren frage. Ich denke zu viel nach. Ich sei ja deutsch, das heißt, ich bin viel zu vernünftig und anständig. Ich laufe immer so früh los, was soll das denn nur!? Mir gefällt der Jakobsweg nach Santiago de Compostela nicht sonderlich – das ist ja überhaupt nicht möglich; der Camino de Santiago ist der Beste! Ich bin zu ruhig, oder ich frage zu viel nach.
Wieder einmal bin ich mit einer Person konfrontiert, die mich nicht akzeptiert, wie ich bin. Sie kritisiert mich vor allen anderen.
In mir tobt ein Sturm aus Traurigkeit und Wut. In der Vergangenheit hatte ich genau die gleichen Erfahrungen, habe immer alles geschluckt und nie den Mund aufgemacht. Alle Gefühle haben sich in mir angestaut und letztendlich dafür gesorgt, dass ich krank geworden bin.
Ich möchte und kann das nicht mehr – so etwas einfach hinnehmen und mir alles gefallen lassen. Vor allen anderen fahre ich sie am Tisch an und möchte wissen, was das eigentlich soll. Ich würde mir wünschen, dass sie einfach akzeptieren kann, dass ich Dinge anders mache als sie und eine andere Sichtweise auf bestimmte Themen habe.
Am Abend gehe ich ins Bett und kann stundenlang nicht einschlafen. Auch am nächsten Tag während des Laufens rasen meine Gedanken. Was ist nur falsch an mir? Warum passiert sowas immer wieder?
Die Selbstzweifel sind wieder enorm präsent. Ich ziehe mich emotional zurück, das heißt, bei Begegnungen mit anderen Menschen spreche ich kaum und vermeide Blickkontakt.
Das kann es doch nicht sein
Ein paar Zeilen aus meinem Notizbuch:
„Es kostet mich Überwindung, mich zu öffnen. Es kostet mich Kraft, Ich selbst zu sein. Tief in mir ist ein großes Loch, das endlos zu sein scheint. Ich sehe keinen Wert in meiner Person und habe das Gefühl, dass die Dinge, die ich tue, einen größeren Wert haben müssen, um diese Leere mit aufzufüllen.
Es kommt mir vor, als ob ich keinen Schritt weiter gekommen bin. Immer noch die selbe Hilflosigkeit, die selbe Wertlosigkeit und die gleichen Fragen:
WER BIN ICH ÜBERHAUPT?
WO GEHÖRE ICH HIN?
WAS MACHT MICH AUS?
Und nichts als Leere im Kopf.“
•••
Eigentlich bin ich total stolz auf meinen Weg.
Ich weiß noch genau, wie wir in der Klinik im Rollenspiel das Gespräch mit dem damaligen Arbeitgeber geübt haben, in dem ich mein Arbeitsverhältnis aufgelöst habe. Ich war total aufgeregt und hatte Angst davor, mein Gegenüber zu verärgern.
Heute, zwei Jahre später, arbeite ich als Sommerarbeitskraft im Ausland, bin während des Winters mit dem Rucksack unterwegs, muss allein mit schwierigen Situationen zurechtkommen und mich an fremde Menschen, Kulturen und Regeln anpassen. Ich teile mir oft den Raum mit anderen Menschen und habe nie richtig ein gewohntes Umfeld.
In diesen Momenten, in denen ich entweder vor eine schwierige Situation gestellt oder mit einer Person konfrontiert werde, die meine Grenzen überschreitet, komme ich total schnell ins Straucheln.
Äußere Einflussfaktoren wie Erwartungen, Kritik oder Auseinandersetzungen machen mir (immer noch) sehr zu schaffen. Es fehlt einfach noch so viel an Selbstwert und Selbstbewusstsein. Auch wenn das nach außen vielleicht gar nicht so erscheint. Aber in der inneren Welt sieht es ganz anders aus.
