Die (kleine) Biene Emma
Da ist Emma. Emma ist eine Biene. Sie gehört zu den jüngeren ihres Volkes. Das Bienenvolk ist riesig – mehrere Millionen zählt es.
Emma ist sehr fleißig. Sie ist den ganzen Tag unterwegs und gibt ihr Bestes, um so viele Pollen wie möglich zu sammeln und ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Sie legt sehr weite Strecken zurück, geht oft über ihre Grenzen und legt kaum Pausen ein. Da ist dieser starke Drang in ihr, den Erwartungen ihres Volkes gerecht zu werden. Und die große Angst, einen Fehler beim Sammeln zu machen und am Ende ausgestoßen zu werden.
Als sie noch ein Kind war, war sie eine der Langsamsten im Pollensammeln. Sie war ziemlich pummelig für ihr Alter und einfach nicht so schnell im Fliegen wie die anderen. Der große Leistungsdruck hat sie zusätzlich noch ausgebremst. Warum durfte sie nicht die schönen Farben der Blumen bestaunen? Warum konnte sie nicht dorthin fliegen, wo sie wollte, und musste stattdessen den Fluglinien der anderen folgen? Warum wurde sie belächelt und als verrückt erklärt, wenn sie auch mal ganz ungehalten vor Freude wilde Kreise in der Luft drehte? Irgendetwas schien mit ihr wohl nicht zu stimmen…
Für Emma war klar: Wenn sie einfach das macht, was von ihr verlangt wird, dann fällt sie nicht auf. Dann wird sie weder ausgelacht noch zieht sie Wut auf sich. Wenn sie sich anpasst, dann ist sie Teil der anderen.
Doch irgendwie fühlte sich das tief im Inneren nicht richtig an. Sie stieß mit dem Verhalten zwar kaum auf Gegenwind, fühlte sich aber dennoch nicht zugehörig zum Volk. » Warum scheinen alle damit klarzukommen, dass wir nur dazu da sind, möglichst viel zu leisten und dem Volk Nutzen zu bringen? Bin ich die Einzige, die sich so sehr nach Entschleunigung, Genuss und einer individuellen Fluglinie sehnt? «
Emmas Gedanken rasten. Niemand verstand sie, wenn sie über ihre Gefühle sprach. Alle Bienen, von denen sie umgeben waren, schüttelten nur den Kopf und baten sie um Besinnung. Die typischen Flugwege existieren wohl schon seit Jahrzehnten und garantieren mittlerweile, dass der Honig wunderbar cremig und lecker wird. Neue Wege bedeuten: andere Pollen – Möglichkeit des Verirrens – unbekannte Gefahren – Risiko, dass der traditionelle Honig anders schmeckt
Aber bedeutet anders denn automatisch schlecht(er)? Und würde es nicht heißen, dass durch mehr Genuss und Freude beim Pollensammeln automatisch auch mehr Liebe im Honig wäre?

Sie wollte es wagen. Eines Tages verließ Emma die gewohnten Flugrouten und suchte nach neuen Stellen zum Pollensammeln. Sie wollte das tun, was sie wollte: die Gerüche einsaugen, neue Pollen kosten, ihre Umgebung erkunden und vielleicht auch mal fremde Bienen treffen. Sie wollte Spaß an der Arbeit haben und nicht nur tagtäglich den eingeflogenen Linien folgen… so wie es alle aus ihrem Volk taten.
Es warteten unzählige Überraschungen auf sie: Auf dem neuen Weg begegnete sie plötzlich anderen, die genauso wie sie aus dem „Hamsterrad“ ausgebrochen sind. Die die Welt entdecken wollten. Sie begegnete Herausforderungen, die ihr eine Menge Mut und Selbstvertrauen abverlangten. Zum Beispiel, als sie beim vielen Staunen gegen einen Baumstamm geflogen und auf den Boden gefallen ist, wo eine Schlange sie beinahe verschlungen hätte. Doch Emmas empathische Art hat nach einigen Worten dafür gesorgt, dass Natalie (die Schlange) nun eine gute Freundin ist, mit der sie sich jede Woche Donnerstag unterm Baum trifft, um eine Weile zu plauschen. All‘ ihre Erfahrungen bereicherten sie enorm und ließen sie innerlich wachsen.
Was das Bienenvolk betrifft, gab es allerdings großen Gegenwind, ja sogar Sturm. Wie konnte Emma nur unbekannte Pollen bringen, von denen keiner wusste, welche Veränderungen sie im Honig bewirken?? Wie konnte sie sich einfach allein vom Volk entfernen, ohne die Zustimmung der anderen?? Wie konnte sie mehr auf den Genuss als auf die Produktivität fokussiert sein??
Für Emma brach eine Welt zusammen, niemand wollte und konnte sie verstehen. Dabei war sie so glücklich, sich endlich getraut zu haben. Natürlich hängt im Bienenvolk alles zusammen, jede Aktion hat eine Auswirkung auf die anderen und vor allem auf den Honig am Ende. » Vielleicht haben die anderen ja recht, vielleicht habe ich einen großen Fehler gemacht, auf meine inneren Bedürfnisse zu hören. Das war nicht richtig, ich tue damit niemandem was Gutes. «
Halt! Emma, bist du denn Niemand? Ist es nicht wichtig, dass es jeder einzelnen Biene gut geht, damit es dem ganzen Volk gut geht? Warum lässt du dich so sehr an deinen Bedürfnissen, Träumen und Wünschen zweifeln? Nur, weil die anderen es nicht verstehen können? Wo bleibst DU denn am Ende?
Natürlich hängt im Bienenvolk alles zusammen und jeder ist auf jeden angewiesen. Aber du kannst nur einen Beitrag leisten, wenn es dir selbst gut geht. Hast du denn gar nicht mitbekommen, wie viel cremiger und schmackhafter der Honig durch deine Pollen geworden ist? Und wie sehr du die älteren Bienen anstachelst, ihre Wege, die sie seit mehr als zwanzig Jahren abfliegen, auch mal nach links oder rechts zu verlassen? </span>
Du bringst neuen Wind in dein Volk, du inspirierst und motivierst. Und das „nur“, indem du dir selbst treu bleibst und deinem Herzen folgst. Du bist so stark und mutig, du kannst Großes bewirken. Aber dafür ist unendlich wichtig: Vergiss‘ dich nicht und sorge gut für dich, du musst am Ende glücklich sein mit dem, was du tust und wer du bist. Das, was die anderen Bienen zu dir oder über dich sagen, kann dir egal sein.
Sie können dich oder deine Träume nicht verstehen? Dann haben sie vielleicht selbst keine oder wissen nicht, wer sie sind. Sie reden über dich? Prima, dann scheinst du ja nicht so gewöhnlich wie jeder andere zu sein. Sie heißen nicht gut, was du tust? Vielleicht, weil sie deinen Mut bewundern und selbst viel zu große Angst haben, so etwas zu tun.
Liebe Emma, es ist wunderbar, dass du den ersten Schritt gemacht hast. Dass du ins Unbekannte aufgebrochen bist. Dass du deinem eigenen Weg folgst. Deine ständig aufkommenden Zweifel an dir selbst und deiner Entscheidung halten dich nur von deinen Träumen ab und schränken dich ein. Das hast du nicht nötig, du bist wunderbar so wie du bist! Bleib‘ auf deinem Weg und lass‘ dich nicht davon abbringen… erst recht nicht von anderen! Alle Entscheidungen, die du triffst, und alle Fehler, die du machst, sind in diesem Moment genau richtig und stärken dich für die Zukunft. Du hast schon so viel gemeistert, du wirst am Ende einen großen Anteil am weltbesten Honig haben. Und das „nur“, weil du bist wie du bist und weiterhin deinem Weg folgst!
Du bist nicht mehr die kleine Biene Emma, du bist unglaublich erwachsen.
