Kennst du das Gefühl, dass du irgendwie auf der Stelle trittst und nicht so richtig vorankommst? Dass Tag für Tag rumgeht, plötzlich ist es schon eine Woche, ein Monat… und verändert hat sich nichts wirklich!?
Seit dreieinhalb Monaten bin ich nun in den Bergen, habe lange und anstrengende Arbeitstage, die mir gleichzeitig sehr viel Freude bereiten und tolle Momente mit sich bringen. Bevor ich hierher gekommen bin, war ich mehr als sechs Monate auf Reisen, habe ständig den Ort gewechselt, neue Menschen kennengelernt, mich bei der Freiwilligenarbeit in ein neues Umfeld und andere Abläufe eingearbeitet und den Rucksack andauernd aus- und wieder eingepackt. Organisatorisches regeln, auf die eigenen Bedürfnisse und Grenzen achten, eine neue Sprache lernen, Unterkunft suchen, Bus- und Zugverbindungen finden – all‘ das hat unglaublich zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen, ist aber gleichzeitig auch anstrengend. Vor allem auf Dauer.
Nun bin ich also hier, auf fast 2.000 m Höhe in den Bergen, auf einem Bergbauernhof mit Gastwirtschaft, habe meine eigenen vier Wände, muss nicht einkaufen gehen, bin voll im Arbeitsalltag eingespannt, bekomme einen Lohn und nutze meine freie Zeit, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, zu wandern, lesen, schreiben oder für die Weiterreise zu recherchieren. Es fühlt sich an wie ein Zuhause, ich fühle mich pudelwohl.
Hier habe ich Zeit, anzukommen. Ruhe zu finden. Und was bedeutet das natürlich? Dass in meinem Kopf enorm viel los ist.

Was ich auf meinem Weg deutlich gelernt und erkannt habe:
Egal, wohin ich gehe, treffe ich immer wieder auf die gleichen Schwierigkeiten. Ganz klar, ich nehme mich ja selbst überall mit hin. Zufriedenheit und Wohlsein kommt tief aus dem Inneren und ist in nur kleinen Teilen vom Außen abhängig.
Immer wieder ist es mir im vergangenen Jahr passiert, dass ich Menschen und Situationen begegnet bin, die bestimmte Triggerpunkte in mir getroffen haben – sei es ein Kollege, ein Reisender oder ein Fremder auf der Straße. Sie haben alte Gefühle und Erfahrungen aus meiner Kindheit aufleben lassen und mich teilweise kurz aus der Spur gebracht. Der Rückfall in alte Gedanken- und Verhaltensmuster waren die Folge. Ein Abwärtsstrudel von negativen Gedanken hat mich manchmal wieder zurück in sozialen Rückzug, ständige Selbstzweifel und Ängste gebracht. Manchmal war (und ist) es wie ein Schlag ins Gesicht. Es fühlt sich an, als stände ich immer noch am selben Punkt wie vor einem Jahr und es hätte sich rein gar nichts getan. Doch bei langfristigem Zurückblicken und dem Vergleichen mit ähnlichen Situationen etwa ein Jahr zuvor hat sich enorm viel verändert.
Ich bin eine starke Frau. Ich nehme nicht mehr alles persönlich. Ich kommuniziere meine Gedanken & Gefühle, stecke Menschen nicht in Schubladen, bin offen für andere Denk- & Lebensweisen. Und ich „besitze“ viel, worum so mancher mich beneidet: Zeit, Freiheit, Ungebundenheit, guten Schlaf, Unabhängigkeit, Selbstreflexion.

Vor Kurzem hatte ich eine ganz besondere und für mich sehr wegweisende Begegnung. Mit einer Person, die mir absolut fremd war, der ich mich aber komischerweise sehr schnell öffnen konnte. Ich sage „komischerweise“, weil es mir im Regelfall schwer fällt, mich von Anfang an zu öffnen oder Dinge von mir preiszugeben. Dieser Mensch hat eine besondere Energie ausgestrahlt, die mir ein Gefühl von Sicherheit und Urteilsfreiheit gegeben hat. Ich habe gespürt, dass ich Vertrauen schenken kann. Und trotzdem hat es einiges an Überwindung gekostet.
Was zurückkam, hat meinen irrationalen Anteil ins Stocken gebracht – die Person hat zugehört, ohne sofort zu bewerten oder abzuwerten. Gewisse Fragen gestellt, um mich besser zu verstehen. Die eigene Wahrnehmung aus der Außenperspektive geschildert. Vieles davon hat mein Bewusstsein angeregt. Unsere Gespräche und die kurzen Zeiten miteinander haben dafür gesorgt, dass ich ein paar Punkte meines Weges, Denkens und Verhaltens nun täglich hinterfrage.
Habe ich Bindungsangst?
Ist meine Tätigkeit in der Gastronomie ein Ersatz für die Nähe, die ich suche?
Laufe ich vor mir selbst weg? Vermeide ich etwas?
Sollte ich offen mit meiner Problematik umgehen?
Schaffe ich das alles?
Bin ich allein?
Ich merke immer wieder, wie sehr alte Kindheitserfahrungen verankert sind. Wie stark sich bestimmte Denk- und Verhaltensmuster manifestiert haben. Und wie schwer es fällt, das alles hinter mir zu lassen.
Vor einiger Zeit bin ich auf das Thema Hochsensibilität gestoßen. Etwa 15% der Menschen in der Gesellschaft haben diese Charakterprägung. Es bedeutet, dass man auf äußere Reize empfindlich reagiert und die Umwelt sehr intensiv wahrnimmt. Dazu zählen nicht nur Sinneswahrnehmungen wie Licht, Geräusche oder Gerüche, sondern auch die Gefühle von anderen, die Suche nach tieferen Bedeutungen und Zusammenhängen, das starke Reflektieren über eigene Ideen, und tiefgründiges Nachdenken.
Hochsensible Menschen sind stark empathisch, kreativ und erfinderisch, begeisterungsfähig, ehrlich, aufrichtig und loyal. Oft streben sie nach Authentizität, sind sehr bedacht in ihren Handlungen und Worten, vertrauen auf ihre Intuition und sind fokussiert bei der Sache. Natürlich geht gleichzeitig auch Perfektionismus mit einher, also eine starke Vermeidung von Fehlern. Konflikte lösen großen Stress aus – darum ist das Harmoniebedürfnis sehr stark ausgeprägt.
Durch die schnelle Reizüberflutung brauchen Hochsensible mehr Ruhe, Pausen und Schlaf als die meisten Menschen. Sie benötigen Zeit für sich allein, in der Natur und um ihre Kreativität auszuleben.

Das Wissen darüber, dass ich zu diesen Menschen gehöre, hilft mir enorm. Es erklärt, warum ich mich in der Schulzeit immer anders und unpassend gefühlt habe… und auch heute manchmal noch. Nun macht Sinn, warum ich mit Smalltalk und oberflächlichen Gesprächen sehr wenig anfangen kann. Ich verstehe jetzt, warum ich mich oft missverstanden fühle und gefühlt habe; warum mich unabgeschlossene Dinge „stressen“ und ich relativ schnell überfordert bin, vor allem bei größeren Menschenmengen und Hektik.
Es hilft sehr, sich selbst besser kennen und verstehen zu lernen. Dadurch kann ich mich immer mehr akzeptieren… mit allen Ecken und Kanten.

Das Leben in den Bergen ist genau das, was ich an dem Punkt meines Weges, an dem ich gerade bin, brauche. Es ist ein Leben im Einklang mit der Natur, relativ fern von Zivilisation. Man konsumiert anders – bewusster und weniger. Nach meinen eigenen Schätzungen würde ich sagen, dass die Eigenversorgung hier oben ca. 60-70% ausmacht – Quellwasser, Solarzellen, eigener Gemüse- und Kräutergarten, selbstgesammelte Steinpilze und Pfifferlinge, Heu (für die Tiere) und Kartoffeln vom Steilhang, Holz zum Feuern aus dem angrenzenden Wald, Zirbenzapfen-, Schafgarbe, wilder Thymian usw. für Schnaps, Tee und Kräutersalz, frisches Fleisch von den eigenen Rindern und Schafen, Eier von den Hühnern (die natürlich überglücklich sind, weil sie die Essensreste der Gäste als Futter bekommen und da täglich Brot, Schnitzel, Braten, Kartoffeln, Nudeln und Gemüse mit dabei sind 😉).
Sobald es dunkel wird, kann man unzählige Sterne, Sternschnuppen und die Milchstraße sehen. Es gibt keinen Kirchturm, der dich ununterbrochen an die voranschreitende Zeit erinnert. Fernseher, Radio, soziale Medien und materielle Besitztümer spielen nahezu keine Rolle. Das Nicht-Vorhandensein von Bergbahnen sorgt dafür, dass der Hof ein Ort der Stille bleibt, der nur gezielt von Menschen angewandert oder -gefahren wird.
Hier oben ist die Gemeinschaft wichtig. Das Aufeinander-Achten. Füreinander-Dasein. Gegenseitig-Helfen. Gemeinsam eine schöne Zeit haben und das Leben als Team bewältigen.
Ich bin sehr geerdet, innerlich ruhiger und im Einklang mit meinem Umfeld und mir selbst. Das ist ein Zustand, den ich in diesem Umfang noch nicht kennengelernt habe. Und ich genieße ihn total! Hier kann ich sein, wie ich bin. Und das ist Gold wert ♥️
