Es ist dunkel… und kalt. Es ist eng… und irgendwie ungemütlich. Da muss mehr Platz sein, es ist Zeit zu atmen und zu wachsen.
Vorsichtig die Fühler ausstrecken nach rechts, langsam die Flügel ausbreiten nach oben und hinten. Okay, wow, das fühlt sich ziemlich gut an. Und irgendwie kommt nun auch mehr Licht in die Dunkelheit. Waaah, es wird sogar richtig grell!
Nach ein bisschen Eingewöhnungszeit wird alles etwas klarer, ja fühlt sich sogar ziemlich normal an. Die Umwelt, die anderen Lebewesen, die Sinneseindrücke… alles so vielfältig und unfassbar schön. Und wenn etwas davon nicht schön ist, dann ist es wenigstens etwas Lehrreiches für’s Leben.
So muss sich Freiheit und (Er)Wachsen anfühlen; das muss es sein, was „Unabhängigkeit“ genannt wird. Aus dem jungen Spross wird ein zartes Blümchen, das am Ende in einer unübersehbar schönen Blüte steht… und strahlt.

Die Wurzeln werden tiefer, ihre Präsenz immer größer. Sie ist offen für alles, was um sie herum passiert. Denn letztendlich basiert das Ganze auf dem Zusammenspiel von Geben und Nehmen. Der Biene gibt sie den Nektar zum Trinken, dafür bekommt sie Pollen zum Blühen. Der Regen gibt ihr Wasser zum Überleben, sie gibt anderen Lebewesen Unterschlupf und Halt. Alles hängt zusammen und ist gegenseitig aufeinander angewiesen- da ist kein Platz für Alleingänge. Ein Alleingang wäre ihr Untergang!
Doch was ist das? Irgendwie verändert sich alles. Die schöne Blume, die während ihrer Zeit des „Erwachsens“ aufmerksam ihre Umwelt beobachtet hat (um in diese hineinzuwachsen und ein Teil von ihr zu werden), ist verunsichert. All‘ ihre bisherigen Lebenslektionen machen auf einmal nur noch wenig Sinn.
Die anderen Lebewesen nehmen keine Rücksicht mehr aufeinander. Sie sind so auf sich selbst fokussiert, dass sie alles andere vergessen… und anderen Lebewesen damit sogar schaden. Die Welt scheint immer schneller zu werden, ja sogar zu rasen. Warum müssen die anderen zarten Blümchen, die sie selbst auch einmal war, auf einmal in dreifacher Geschwindigkeit „erwachsen“? Warum werden sie, wenn sie einmal groß und gut genug sind, plötzlich ihren Wurzeln entrissen? Warum müssen sie etwas erreichen, das außerhalb ihrer natürlichen Möglichkeiten steht?
Mutter Erde sendet eindeutige Signale, dass es ihr nicht gut geht… und diese Signale werden einfach nicht gesehen.
Was ist es für eine Welt, in der alle zusammen leben und trotzdem noch nie so einsam waren?
Gestern Nacht bin ich immer wieder aufgewacht und lag dann lange wach, manchmal rollte mir auch die ein oder andere Träne die Wange herunter. Mein Gehirn verarbeitet die Impressionen meiner Reise seit einigen Tagen besonders intensiv. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass ich seit mehr als einer Woche ausschließlich in größeren Städten unterwegs bin und die äußeren Einflüsse und Eindrücke dadurch deutlich intensiver sind.
Jeder von uns weiß, wie es in der Konsum- und Kapitalismusgesellschaft abläuft: Effizienz, Geld, Sparen, Materielles, Schnelligkeit, Quantität statt Qualität, usw. usw. usw.
An jeder Ecke wird uns vermittelt, wie sehr wir diese eine Sache brauchen oder was in unserem Leben noch alles fehlt, bis wir endlich glücklich sind. Oder was an uns alles zu verbessern ist – Haare, Gesicht, Körper, Job, Kleidung, unsere häusliche Einrichtung, …
Autos machen heftigen Lärm, an jeder zweiten Ecke wird gebaut. Der Lkw brettert vorbei und zieht eine massive Wolke an Abgasen hinter sich her. Leute pöbeln sich an, wenn etwas nicht schnell genug geht oder den Erwartungen des anderen entspricht. Mittendrin immer wieder Menschen, die auf der Straße schlafen oder um Geld bitten.
Und wir? Wir sind vollkommen ferngesteuert mitten im Chaos und kriegen es nicht mal richtig mit. Egal, ob auf der Straße im Gehen, an Bahnhöfen, Bushaltestellen oder Metrostationen, im Restaurant am Tisch, im Wartezimmer beim Arzt oder beim Spaziergang in der Natur- ganz oft und bei den meisten scheint die Außenwelt abgeschaltet zu sein. Blick gesenkt, Ohrstöpsel drin, Scrollen durch Social Media, Sprachnachrichten, Anrufe oder Videospiele, Fotografieren von allem – Hauptsache beschäftigt, effektiv und mit Wirkung nach außen. Dabei hört man wohl kaum die schöne Straßenmusik am Rand, den Vogelgesang, den Hilferuf einer gestürzten Frau oder das ansteckende herzliche Lachen eines anderen. Man sieht auch nicht das schöne Lächeln der entgegenkommenden jungen Frau, die lila Blume am Wegesrand oder den Regenbogen, der gerade wunderschön strahlt. Wo bleibt nur die Wertschätzung für den gegenüber oder die unmittelbare Umwelt? Tut es gut, körperlich anwesend, geistig aber ganz woanders zu sein?
Während meiner Reisen bin ich sehr viel auf mich allein gestellt, da ich niemanden dabei habe, der mit mir zusammen reist. Und das ist auch gut so, weil dadurch meine Sinne deutlich schärfer sind. Ich versuche bewusst, auf mein Smartphone zu verzichten und mit den Menschen in Kontakt zu kommen: nach dem Weg fragen, am Schalter nach den Abfahrtszeiten fragen und die Tickets dort kaufen anstatt online, Leute auf der Straße grüßen oder fragen, ob ich beim Einkäufe-Tragen helfen kann. Es ist so wunderbar, mit den Leuten in den direkten Austausch zu kommen. Das erzeugt oft eine positive Reaktion auf Seiten des Gegenübers und nimmt manchmal unerwartete Wendungen.
Vor ein paar Tagen war ich mal wieder „off-the-beaten-track“ unterwegs; dabei kam ein Mann mit seinen Hunden auf der anderen Straßenseite entlanggelaufen und nach dem gewöhnlichen „Olá!“ und einem kleinen Gespräch auf der Straße sind wir letztendlich zusammen Gassi gegangen, haben eine Radtour zum Supermarkt gemacht und am Ende gemeinsam Mittag gegessen mit einer Freundin, die er selbst seit mehr als 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Und warum hat er mich angesprochen?
„Du sahst nicht aus wie ein Tourist. Du sahst aus wie jemand, der wandert und entdeckt. Hier sind nie Touristen unterwegs. Ich habe gemerkt, dass du anders und spannend bist.“
Durch diese Worte ist mir viel bewusst geworden: all‘ die Dinge, die ich tue, sorgen dafür, dass mich unsere heutige Welt nicht komplett überfordert und ich am Ende durchdrehe. Die Outdoor-Aktivitäten bringen mich immer wieder in den Kontakt mit der Natur; die Trekkingtouren und Yoga helfen mir zu mehr Verbundenheit mit dem eigenen Körper; die Themen Nachhaltigkeit, Achtsamkeit und Bewusstsein helfen mir, mich auf meine Werte und das innere Selbst zu besinnen; der Kontakt mit meinen Liebsten und das Kennenlernen neuer Menschen hält meine Balance zwischen Bindung und Offenheit.
Und doch muss ich so oft im Alltag auf mich und mein Wohlbefinden Acht geben, weil täglich neue Eindrücke, Veränderungen und Unbekanntes von außen einströmt. Ich fühle mich manchmal ausgeliefert und nicht in der Lage, das alles zu verarbeiten. Es ist so viel… und das Schlimme daran ist, dass es immer mehr wird, immer schneller und immer unbeständiger.
Die Welt ist trotzdem wunderschön!
Und das Wissen, dass ich mein Bestes gebe, um einen positiven Beitrag zu leisten und für mich selbst zu sorgen, ist genug, um in dieser „verrückten“ Zeit trotz alledem glücklich sein zu können.