Stell‘ dir vor, du bist allein in einem anderen Land. Du hast dich entschieden, eine Sommersaison auf einer biologischen Farm mit Agriturismo zu arbeiten. Die Landessprache lernst du schon seit mehr als einem halben Jahr, mittlerweile kannst du dich mit Einheimischen gut verständigen.
Als du damals Kontakt mit der Farm aufgenommen hast und ihr daraufhin lange telefoniert habt, hat sich alles so stimmig angefühlt. Eine Woche Testphase, um auf beiden Seiten zu sehen, ob es mit Arbeit und Team passt, dann wird sich zusammengesetzt und über die Bedingungen des Arbeitsvertrages gesprochen. Du selbst bist flexibel in den Aufgaben – von Farmarbeit über Zimmerputzen bis zu Restaurantservice würdest du alles machen. Abwechslung ist doch schön.
Nun bist du angekommen. Dein Mitbewohner, welcher Teil des Teams ist und mit dem du für den Sommer in einer WG leben wirst, hat dich abgeholt, weil du die Farm fußläufig nur schwer erreicht hättest. Ein kleines Häuschen auf einem großen Stück Land, umgeben von viel Natur.

Die ersten Tage hilfst du mit auf dem Feld – Eisenstangen für die neu gepflanzten Weinstöcke in den Boden bringen. Eine harte Arbeit, da du dich den ganzen Tag in der Sonne am Hang aufhältst.
Dann wechselst du ins Gästehaus, wo sich auch das Restaurant befindet. Das Team dort besteht aus Frauen, die sehr aufgeweckt und freundlich sind… und gern singen. Dir wird vieles erklärt, gezeigt und du kannst erste kleine Dinge selbst machen.
Es ist der Monat Mai – das heißt, es gibt viele Kommunionsfeiern. Dafür hilfst du mit bei der Vorbereitung: Brot aufschneiden, Käsebretter anrichten, Tische eindecken, in der Küche Gemüse schnippeln, Wasser in Karaffen abfüllen, Blumensträuße herrichten, den Pool saubermachen, usw.
Nach und nach kommen die Gäste. Mehr als sechzig… und nebenbei noch andere Besucher, die gern im Restaurant essen möchten. Das Team ist eingespielt, jeder hat seine Aufgaben und gemeinsam haben sie ihren Ablauf. Es sind ausreichend Personen – wo ist da der Platz für dich?
Jeder macht seine Ding. Es ist laut, ziemlich chaotisch, und für Kommunikation bleibt keine Zeit. Du versuchst, zu helfen wo du kannst, aber wirst immer wieder zurückgehalten.
Ganz schön frustrierend, schließlich willst du doch hilfreich und nicht überflüssig sein. Was ist nur los? Wenn sie keine Hilfe brauchen, hätten sie mir das doch im Vorhinein sagen können…
Die erste Woche ist schon fast vorbei. Was ist mit meinem Arbeitsvertrag? Der sollte doch nach einer Woche geschlossen werden. Du fühlst dich sehr unsicher und weißt nicht, woran du bist. Schließlich suchst du das Gespräch mit deinem Ansprechpartner für alles Organisatorische.
„Ja naja, also wir nehmen den Mai als TestMONAT, um uns ein Bild von dir zu machen.“
Wie bitte!? Erst war die Rede von einer Woche, jetzt ist es plötzlich ein ganzer Monat!? Das kann doch nicht wahr sein.
Du bist wütend und hilflos zugleich. Sollst du was sagen, oder lieber die Klappe halten? Anderes Land, andere Mentalität, du beherrscht die Sprache nur halb… eigentlich fühlst du dich nicht in der Position, um Forderungen zu stellen. Also nickst und lächelst du nur. Okay.
Von Tag zu Tag wirst du unruhiger. Du arbeitest vier-fünf Tage in der Woche in einer jeweils 7- bis 8-Stunden-Schicht. Du kommst zur gleichen Zeit wie deine Kollegen und ihr macht gemeinsam Feierabend -mit dem kleinen Unterschied, dass sie dafür entlohnt werden. Du gibst trotzdem dein Bestes… weil du das immer tust.
Doch dein Energielevel sinkt und sinkt und sinkt. Du schläfst enorm viel, hast keine Kraft für die einfachsten Dinge, deine Freude ist komplett verloren gegangen. Deine Gedanken kreisen rasend schnell und ohne Pause.
Irgendwann ist es so schlimm, dass du verzweifelt und hysterisch weinend deine Familie anrufst, weil du einfach nicht mehr weißt, was du machen sollst:
Ich werde die ganze Zeit hingehalten in Bezug auf Arbeitsverhältnis und Bezahlung, und zurückgehalten in Bezug auf meine Tätigkeit im Restaurant.
Ich möchte hier nicht den ganzen Sommer über bleiben!
Es ist fast Juni – die Saison hat überall schon angefangen. Da ist es jetzt viel zu spät, um noch etwas zu finden.
Was soll ich nur tun? Wenn ich gehe, stehe ich ohne alles da. Keine Bleibe, kein Job, kein Plan. Ich fühle mich so verloren!
OKAY, STOPP!!
Trete einen Schritt zurück. Schließe die Augen, atme tief durch. Was brauchst du gerade? Was willst du eigentlich tief in deinem Inneren?
Du nimmst dir Zettel und Stift und spürst in dich hinein. Beim genaueren Hinschauen wird dir schnell klar, was du gerade brauchst und willst:
- Stabilität (fester Ort für längere Zeit, (Arbeits-)Alltag, Routinen, Hobbies, vertrautes Umfeld)
- Raum, der nur dir gehört (räumlich und emotional)
- Bindungen, Netzwerk (soziale Interaktion, Menschen kennenlernen, Familie und Freunde, Geborgenheit, Zugehörigkeit)
- ein Projekt/ eine Aufgabe/ Teil von etwas sein (Selbstverwirklichung, dich ausleben, einen Sinn in deinem Sein/Tun empfinden, Engagement)
Ganz klar ist: Fast nichts davon kannst du auf der Farm finden.
Du hättest dort zwar einen Arbeitsalltag und ein eigenes Zimmer in der WG. Aber du fühlst dich mit all‘ dem nicht wohl.
Auf Arbeit läuft immer laut Musik und die Mentalität der Menschen des Teams ist auch laut – das heißt viel Gerede, Geschreie und starke Emotionen. Es gibt nicht eine Sekunde der Ruhe.
In der WG kämpfst du mit Dreck – in Küche, Bad, und eigentlich überall. Dein Mitbewohner lässt sein Zeug ständig einfach stehen und liegen, macht kaum sauber, spült oftmals die Toilette nicht und lässt seine Zimmertür dauerhaft offen (egal, ob er schläft, chillt oder Frauenbesuch hat). Dir ist das alles sehr unangenehm und du kämpfst mit starken Ekelgefühlen.


Was ist also dein nächster Schritt?
GEHEN!
Und dann?
Keine Ahnung.
Du hast zwei Freunde, die jeweils nur ca. fünfeinhalb Stunden mit dem Bus von deinem aktuellen Standort entfernt wohnen. Glücklicherweise haben beide von ihnen Zeit und ihr könnt euch endlich nach mehr als einem Jahr wiedersehen.
Dafür geht es für dich wieder zurück in die Berge. Du merkst, wie sehr dir diese eigentlich gefehlt haben.
Vielleicht sind die Berge auch ein Kraftort für dich, an dem du längerfristig glücklich bist!?
Du fühlst dich rastlos, immer in Bewegung, niemals zur Ruhe kommend. Suchst du nach etwas? Hast du ein Ziel? Wo gehörst du hin, was willst du machen?

Irgendwie versuchst du ständig, auf alles eine Antwort zu finden. Du brauchst die Kontrolle und immer einen Plan. Deine aktuelle Situation macht dich fertig – keinen Job, keine Bleibe, keine Bindungen vor Ort. Es fehlt dir komplett an Stabilität.
Unbewusst fällst du in alte Muster zurück. Du hast den starken Drang, dir deine Kontrolle zurückzuholen. Aber eigentlich schadest du dir damit selbst.
Dein Freund in Trento ist sehr empathisch und erkennt deine Baustellen. Er spricht viele Dinge an, die du sonst erfolgreich wegdrängst und unter den Tisch fallen lässt. Doch nun bist du damit konfrontiert.
Selbstzweifel
Hoffnungslosigkeit
momentan ist dein Glas immer halb leer
(sehr) verzerrtes Selbstbild
Er fragt dich vieles und kann deine Gedanken, die du zu den Themen hast, oftmals nur schwer nachvollziehen. Aber trotzdem akzeptiert er deine Gefühle… und bewertet sie nicht.
Nachdem er dir einige Zeit zugehört hat, beginnt sein Monolog:
Willst du das Schaf sein, das wie alle anderen ist? Dann verhalte dich auch wie alle anderen.
Aber gerade hast du mir erzählt, dass du viele Dinge anders siehst, machst und lebst. Prima, das ist wunderbar!
Warum lehnst du deine Einzigartigkeit so ab? Es ist toll, dass du nicht eins von tausend Schafen bist.
Du gehst nicht gerne aus und bist bis spät in die Nacht weg? Okay, kein Problem.
Du gehst lieber eher schlafen, stehst gern zeitig auf und genießt die Ruhe am Morgen? Das ist eine gute Routine; du lebst damit sehr natürlich.
Du trinkst keinen Alkohol? Wow!
Du isst fünf- bis sechsmal am Tag – regelmäßig, gesund, ausgewogen, pflanzenbasiert. Den meisten kommt es oftmals ungewöhnlich vor und sie sprechen dich darauf an. Aber du musst dich damit doch nicht verstecken. Du kennst deinen Körper und hörst auf ihn. Das ist bewundernswert!
Und auch in deiner aktuellen Situation heißt es nicht, dass du verloren, unerwünscht oder zu blöd bist. Sei froh, dass du gegangen und nicht geblieben bist, denn nun werden sich neue Türen öffnen. Frage nicht so viel, genieße das Leben, lass‘ die Dinge mal auf dich zukommen. Du bist einzigartig, und das ist eine verdammt große Stärke! Du bist so jung – da wartet noch sehr viel auf dich.
Du bist sprachlos. Was sollst du dazu noch sagen?
•••
Heute verlässt du Trento… und auch Italien.
Der Abschied von deinem Freund und von diesem wundervollen Land ist hart. Du spürst Traurigkeit, aber das Wissen, dass du jederzeit zurückkommen kannst, macht alles deutlich leichter.
Zeitlich und räumlich wird der Abstand zur Farm und den damit zusammenhängenden Erfahrungen immer größer. Die Zeit in Trento mit der Energie und den Worten deines Freundes haben deinem Akku eine Erholungspause und Komplettaufladung gegeben. Du fühlst dich nun mehr bereit für alles, was auf dich zukommt.
Nächster Stopp: Salzburg.