Liebe Tinka, …

Es ist der Wahnsinn, was in den letzten Jahren alles passiert ist. Du hast eine unglaubliche persönliche Entwicklung hingelegt, dein Auftreten hat sich um fast 180° gewendet. Kannst auch du das spüren?

Erste eigene Wohnung, Umzug, Abschluss der Ausbildung, Einsteigen in ein komplett anderes Berufsfeld, Sommersaison-Job, für lange Zeit in die Ferne gehen, Wohnungsauflösung, nur noch das Nötigste besitzen, auf 2.000 m Höhe den Sommer lang leben und arbeiten… und noch so vieles mehr.

Entgegen allen Zweifeln, die sowohl von außen als auch von dir selbst kamen, hast du einen anderen Weg gewählt. Teilweise bist du mit deinen Entscheidungen auf Unverständnis, Kritik und Ängste gestoßen. Doch trotzdem hast du die Ungewissheit über das, was kommen wird, in Kauf genommen.

Vom stillen Mäuschen, das keine Umstände und es jedem recht machen will, zur selbstständigen jungen Frau, die einen eigenen Haushalt führt und später allein mit ihrem Rucksack in der Welt rumreist, neue Leute kennenlernt und schwierige Situationen meistert. Kannst auch du diese Veränderung sehen?

Dein Bauchgefühl sagt dir, dass du nicht in deinem Ausbildungsberuf arbeiten möchtest. Deine Reaktion: Arbeitsvertrag auflösen und in ein neues Berufsfeld einsteigen.

Du spürst, dass du auf Dauer in deiner Heimat nicht glücklich wirst. Deine Reaktion: In die Ferne gehen, um dann dort zu erkennen, dass du nun deutlich mehr strahlst und dich entfalten kannst. Und deine Heimat aber trotzdem sehr liebst. 

Dich plagt immer noch deine Angst, von anderen Menschen beurteilt, abgelehnt oder weggestoßen zu werden. Deine Reaktion: mit der Angst konfrontieren, indem du fremde Menschen ansprichst und dich in bestehende Gruppen integrierst. Oder grimmige Blicke und unfreundliche Kommentare nicht mehr sofort auf dich selbst beziehst.

All‘ deine Entscheidungen (für die du auf dein Bauchgefühl vertraut hast) waren verbunden mit Ungewissheit, Selbstzweifeln und Ängsten. Und jede von ihnen hat dich deutlich stärker gemacht. Nicht jede Entscheidung war die beste, aber auch die nicht so guten haben dich wichtige Dinge für die Zukunft gelehrt.

Im letzten Jahr lief vieles sehr gut, vor allem deine persönliche Entwicklung ist deutlich spürbar. Anfangs das graue Mäuschen, jetzt ein strahlender Sonnenschein. Früher zurückgezogen, heute offen und kontaktfreudig. Zu Beginn hast du immer alle Schwierigkeiten mit dir selbst ausgemacht, niemanden belasten und alle Erwartungen erfüllen wollen, nun sprichst du Probleme offen an, fragst nach und sprichst über Gedanken oder Gefühle. Erst hast du Situationen sehr subjektiv wahrgenommen und bist bei Auseinandersetzungen oft in eine mentale Abwärtsspirale gerutscht, heute siehst du im entsprechenden Moment auch mal durch die Augen deines Gegenübers. 

Doch niemals ist alles nur Regenbogen und Sonnenschein. Vieles lief im letzten Jahr auch nicht gut. In einigen Punkten deiner persönlichen Entwicklung hast du noch immer das Gefühl, keine Veränderung erreicht zu haben. Letztendlich führen all‘ deine persönlichen Schwierigkeiten zu zwei großen Basispunkten zurück: die starke Orientierung am Außen (Vergleichen, „Was denken die anderen?“, Werte, Gesellschaft, …) und das fehlende Wohlwollen mit dir selbst. So oft erkennst du deinen Wert nicht, bestrafst dich selbst, stellst dich hinten an, missachtest deine Bedürfnisse, machst dich klein. Du siehst, was andere können oder haben, im Gegenzug erkennst du dadurch sofort, was du NICHT kannst oder hast. Doch siehst du auch, dass du eine Menge Dinge kannst und hast, die andere nicht haben?

Warum vergleichst du dich ständig? Warum kämpfst du gegen deinen Körper? Warum erkennst du deine Bedürfnisse nicht an? – Nur, weil du Angst hast, anders zu sein? Nur, weil du denkst, dass du die Erwartungen der Gesellschaft erfüllen musst? Nur, weil du Angst hast, auf Unverständnis oder Ablehnung zu stoßen?

Das ist es doch nicht, was das Leben für dich lebenswert macht. Ständige Anpassung, Sorgen, Selbstzweifel und Bestrafung. Vielmehr sind es doch die kleinen Dinge, die dir so gut tun. Die Dinge, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern viel tiefer gehen.

Welches waren deine schönsten Momente im vergangenen Jahr?

Das Fernwandern auf dem Camino Histórico in Portugal und dem Camino Portugués nach Santiago de Compostela. Die gemeinsamen vier Tage mit Daniel, der dir seine Heimat in Portugal gezeigt hat. Deine Zeit in Braga. Die Begegnung mit André in Porto, die in einem gemeinsamen Ausflug zum Markt, leckerem Mittagessen und schönen Nachmittag endete. Das Wiedersehen mit deiner sehr guten Freundin, als du ungeplant nach Deutschland gekommen bist. Das gemeinsame Frühstück mit deinen Eltern irgendwo im Nirgendwo, nachdem sie dich vom Flughafen abgeholt haben. Deine Oma, die unter (Freudes-)Tränen davon erzählt, wie sie ihren Vater zum ersten Mal in ihrem Leben sah, als er aus der Kriegsgefangenschaft kam und am Bahnhof aus dem Zug ausstieg. Das Ankommen und Teil-Sein in der Bauernfamilie, mit der du diesen Sommer auf 2.000 m Höhe zusammenleben und -arbeiten wirst. Stall ausmisten, Farmarbeit, Aussteigerleben, zurück zum einfachen Leben. (Natürlich gab es noch so viele andere Momente, aber es würde nie enden, wenn ich alle hier aufzähle.)

All‘ diese Momente haben eine Gemeinsamkeit: sie haben mit anderen Menschen zu tun und du hast auf dein Herz gehört. Du hattest Gefühle von Geborgenheit und Akzeptanz und hast gemerkt, dass du deine Flügel gerade komplett ausbreitest. Im Beisein der Menschen warst du ganz du selbst, ohne dir Gedanken darüber zu machen, ob das, was du sagst oder machst, vielleicht falsch oder komisch sein könnte. Du hast die Zeiten genossen, konntest dich voll und ganz auf das Jetzt einlassen. 

Du kannst es schaffen, das als dauerhaften Zustand zu erreichen. Seit Jahren kämpfst du dafür, dich von deinen Sorgen um andere zu lösen, dich nicht mehr zu vergleichen und mehr im Hier & Jetzt zu leben. Jedes Mal, wenn du wieder alles zerdenkst oder dich mit jemandem vergleichst, siehst du nur persönliches Versagen und Rückschritte. Aber du vergisst so oft, dass es ein Prozess ist. Dein Leben lang existierten diese Denkmuster, es braucht dementsprechend auch eine lange Zeit, um sie zu durchbrechen. Gib‘ dir diese Zeit! Außerdem hat sich schon enorm viel zum Positiven verändert.

Du willst im Einklang mit der Natur leben und dabei wieder mehr in Kontakt mit deinem Körper und deinen Bedürfnissen kommen. Du willst im Moment leben, das heißt unabhängig von Uhrzeiten, ohne Reizüberflutung und mit Spontanität und Flexibilität. Du willst dich voll und ganz auf dein Gegenüber einlassen. Du willst deinen Horizont erweitern und deine Komfortzone regelmäßig verlassen. 

All‘ diese Dinge kannst du tun, wenn du es wirklich willst. Es ist dein Leben, mit dem DU glücklich sein musst. Du kannst deinen Alltag so gestalten, dass er für deine Ziele förderlich ist und dich persönlich wachsen lässt. Wenn das jemand nicht verstehen kann, dann ist das so. Wenn dich jemand für verrückt, rücksichtslos oder naiv erklärt, dann ist das so. Wenn viele Leute anders leben oder eine andere Sichtweise haben als du, dann ist das so. Ist es deswegen schlimm, wenn du so lebst, wie du es willst? NEIN!! DU musst glücklich sein. 

Lass‘ sie reden, nörgeln, zweifeln, kritisieren… und stehe trotzdem weiter zu dir, deinen Bedürfnissen, Träumen, Wünschen und Zielen. 

Wenn du dir so viele Gedanken über die anderen machst, dann lebst du dein Leben gar nicht mehr für dich. Sondern für sie. Und außerdem dreht sich die Welt von jedem einzelnen sowieso hauptsächlich um denjenigen selbst… da ist gar nicht so viel Platz für dich. Und das ist auch gut so. 

Bleib‘ dran! Du bist stark und hast schon so viele Hürden gemeistert. Du wirst das schaffen.

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