Schon seit Tagen ziehe ich mich zurück. Ich bin froh, tagsüber aus diesem Haus rauszukommen. Sobald mein Arbeitstag vorbei ist, komme ich nach Hause und springe unter die Dusche. All‘ die Haare und Flecken, die da auf dem Boden im Bad sind, versuche ich zu übersehen.
Es ist 17:26 Uhr. Ich ziehe mich auf den Dachboden zurück, der für ein paar Wochen nun mein persönlicher Bereich sein soll. Hier gibt es keine klare Abgrenzung, nur eine Holzvorrichtung, damit man nicht runterfällt. Ich verbringe meine Ruhezeit hier, bin aber innerlich überhaupt nicht ruhig.
Starkes Unwohlsein ist das vorherrschende Gefühl. Und es ist ein Dauerzustand. Wir teilen uns ein Haus. So ist es zumindest angedacht. Aber physisch und psychisch ist da nicht so richtig Platz für mich.
Mein Mitbewohner ist ein guter Freund, den ich vor einem Jahr hier in Portugal kennengelernt habe. Er hat mich eingeladen, gemeinsam auf dem riesigen Grundstück einer Quinta Freiwilligenarbeit zu machen. Mit einem großen Unterschied: Während ich täglich fünf bis sechs Stunden körperlich harte Arbeit leiste, arbeitet er am PC im Haus, das wir uns teilen. Drei- bis viermal am Tag fährt er irgendwo hin. Wenn er zurückkommt wird sofort die Musik angemacht. Auch während der Arbeit. Quasi immer. Er raucht fünfzehn Joints am Tag, telefoniert ständig, geht ein-aus-ein-aus, ist ruhe- und rastlos. Im Bad und im Küchenbereich sieht es manchmal so eklig aus, dass ich schon fast Herpes bekomme.
Ich bin verunsichert und distanziere mich freiwillig. Irgendwie sind hier so schlechte Energien, dass mir schon übel wird. Ich muss mich schützen und kenne meine Grenzen. Und das hier ist irgendwie zu viel auf einmal.
Es ist der zweite Abend, nachdem ich von einer zwölftägigen Auszeit zurückgekommen bin. Bereits vor der Rückkehr war ein großer Widerwille in mir. Doch trotzdem wollte ich der Quinta, den Besitzern und auch meinem Kumpel eine Chance geben.
Schon am ersten Abend war mir unwohl. Dass dieser besagte zweite Abend mir eine schlaflose Angst voller Angst und Unbehagen beschert, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.
Nach der tollen Dusche, die all‘ den Schweiß und Dreck von der Arbeit abgewaschen hat, ziehe ich mich wieder auf meinen Dachboden zurück. Ich recherchiere für mein bevorstehendes Projekt, lese und genieße die Ruhe nach der Anspannung. Doch so richtig konzentrieren und entspannen kann ich mich nicht. Unten höre ich in kurzen Abständen Gepolter, Gequietsche oder Knallen. Dann wieder Ruhe, dann Gebrabbel am Telefon, schweres Atmen, Türknallen, Schritte, Autogeräusche. Was zur Hölle macht er? Was ist bloß los?
Ich schnippel mir Kartoffeln und Gemüse und schiebe alles in den Ofen. Das dauert jetzt noch ’ne Weile; in der Zeit bereite ich mir noch den Feta vor und schlüpfe schnell an meinen Rückzugsort zurück.
Oh, er ist wieder da. Die Luft ist ganz negativ aufgeladen; irgendetwas stimmt hier nicht.
Er läuft hin und her. Öffnet den Ofen und schließt ihn wieder. Öffnet den Kühlschrank und schließt ihn wieder. Geht ins Bad. Verlässt das Bad und geht vor’s Haus. Kommt wieder rein. Rempelt jegliche Stühle, Tische und Ecken an. Öffnet den Ofen wieder, danach den Kühlschrank. Es kehrt ein bisschen Ruhe ein.
Mein Essen müsste langsam fertig sein. Ich gehe runter und freue mich schon drauf. Doch dort ist alles verwüstet und er steht daneben, nicht mehr Herr seiner Sinne, schaut mich mit leerem Blick an. Er hat mein vorbereitetes Abendessen einfach aufgegessen.
Mein Fass ist voll. Ich spüre all‘ die Wut, die sich durch sein Verhalten in unseren gemeinsamen Tagen angestaut hat. Und ich platze.
Sag mal, willst du mich verarschen? Was zur Hölle soll das??
Was willst du?
Es ist ja wohl mehr als offensichtlich, was ich meine! Du stolperst hier durch die Gegend, nimmst das komplette Haus für dich ein, isst mein Abendessen einfach auf und verursachst ein unfassbares Chaos. Das geht so nicht!!
Was willst du?
Was ich will? Respekt! Wenn wir gerade mal zusammenleben und uns ein Haus teilen, dann erwarte ich Respekt! Aber alles, was du machst, ist Chaos!
Du weißt genau, dass ich gerade viel Scheiß aus meiner Kindheit aufarbeite und dadurch um mich herum immer Chaos herrscht.
Das bedeutet, dass ich deswegen nur zurückstecke und mich selbst komplett vergesse? Nein!
Ich weiß, dass du gerade viel durchmachst und das tut mir zutiefst leid. Aber wenn du dir dessen bewusst bist, dann kannst du sowas, wie wir gerade machen, nicht machen. Dann kannst du nicht mit jemandem zusammenleben, der damit nichts zu tun hat und dich so ausleben, wie du es eben tust. Ehrlich gesagt bereue ich es, dass ich mich darauf eingelassen habe.
Ach, du bereust das? Und was machen wir jetzt?
Sag DU es mir!
Was willst du eigentlich?
Willst du mich verarschen; bist du schon wieder betrunken?
Ja.
Krieg‘ deinen Scheiß in den Griff! Und lass‘ mich bloß in Ruhe!!!
Ich war DEUTLICH wütend! Und diese Wut hatte die klare Berechtigung, da zu sein.
Wir haben nicht mehr miteinander gesprochen, ich bin weinend und zitternd zurück in mein Schlupfloch gekrochen und die Gedanken sind gerast.
Der restliche Abend und die bevorstehende Nacht bestanden aus Poltern, herunterfallenden Glasflaschen, die auf dem Boden herumrollten und Türknallen. Ich lag im Bett, hatte Angst und keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Was macht sowas mit mir?
Diese kurze aber intensive Zeit hat mich enorm viel über meine Grenzen gelehrt. Ich weiß nun ganz genau, wie sich WUT in mir aufbaut und anstaut, und was passiert, wenn es zu viel wird.
Es tut mir im Herzen weh, ihn so leiden zu sehen und aus persönlichen Erfahrungen heraus genau zu wissen, was in ihm vorgeht. Da sind starke Selbstzweifel, Ängste und Gefühle der Wertlosigkeit.
Er macht nichts davon aus bösem Willen, sondern aus reiner Verzweiflung. Weil er sonst nicht weiß, wie er mit all‘ diesen bitteren und bösen Gedanken umgehen soll. Weil er versucht, seine unangenehmen Gefühle zu unterdrücken. Aus Angst, dass er sie fühlen muss.
Ich habe mich in ihm wiedererkannt. Nicht aktuell, sondern als es mir selbst so schlecht ging. Ich habe zwar nicht getrunken, hatte dafür aber ein anderes Ventil. Die Verhaltensweisen sind total verschieden, aber im Grunde sind es die gleichen Ursachen: das Gefühl, nicht zu genügen, Angst vor den eigenen Gedanken und Gefühlen, und ein sehr schlechtes Selbstbild.
Ich kann nun verstehen, warum ich damals ein ganz paar meiner Freunde verloren habe. Sie konnten das mental nicht händeln und mussten sich selbst schützen. Es war zu viel negative Energie und zu wenig Verständnis für die Zusammenhänge.
Jetzt bin ich auf der anderen Seite. Und mir fällt es schwer, mit seinen psychischen Belastungen umzugehen.
WIE KONNTEN MEINE FAMILIE UND ENGSTEN VERTRAUTEN DAMIT NUR UMGEHEN❓
WAS HABE ICH IHNEN NUR ANGETAN, DASS SIE DAS MIT DURCHLEBEN MUSSTEN❓
Es ist sehr aufschlussreich, auch mal die Perspektive zu wechseln. So lernt man, beide Seiten zu verstehen.
Ich bin mittlerweile (ein paar Tage später) der Überzeugung, dass ich diese Erfahrung machen sollte, um wichtige Dinge zu erkennen und zu lernen. Noch immer schlafe ich schlecht, weil die Freundschaft daran kaputt gegangen ist, aber ich versuche das Glas trotzdem halb voll zu sehen. Das Leben geht weiter – und zwar mit mehr Erkenntnissen und Zuversicht.
