Puuh. Tief einatmen, tief ausatmen. Die stressigste Phase der Sommersaison ist überstanden. In den letzten drei Wochen war in Italien Haupturlaubszeit, viele von ihnen verschlägt es dann in die Berge. Unser Gasthof hatte deshalb in den letzten 14 Tagen keinen Ruhetag. Fast jeden Tag haben sie uns „die Bude eingerannt“ – dementsprechend sind auch wir gerannt. Zwischen Bar, Sonnenterrasse, Küche, Gasträumen und Lager.
Heute ist mein freier Tag. Da es der einzige Abend ist, der mir frei zur Verfügung steht und an dem ich nicht arbeiten muss, habe ich mir vorgenommen, auf unserer Alm zu schlafen – einer kleinen Holzhütte im nächsten Quer-Tal, in der sich ein Bett, Wolldecken, Holzofen, Tisch und Stühle befinden. Zum Händewaschen und „Duschen“ dient das Gebirgswasser, das aus einer Holzrinne über ein Mühlrad in einen Mini-Teich geleitet wird, so wie ein kleiner Wasserfall. Die Toilette ist der Wald. 😉

Geplant war die Nacht auf der Alm, noch ungeplant der verbleibende ganze Tag. Natürlich heißt es für mich: Wandern!
So richtig wusste ich allerdings nicht, welche der vielen zur Verfügung stehenden Wanderungen es werden soll. Am Talschluss gibt es einige Gipfel, die man in eine schöne Runde einbauen kann. Das bevorzuge ich mehr, da ich lineare Wege (also hin und denselben Weg wieder zurück) nicht sonderlich mag. Hier ist wieder der Nachteil, dass ich erst einige Zeit mit dem Bus unterwegs bin, bevor die Wanderung überhaupt losgeht. Unser Hausberg, dessen Weg direkt an unserer Haustür startet, wird inzwischen von vielen Leuten angewandert. Er ist etwa 3.300 m hoch und geht ab einer gewissen Höhe in ausgesetztere Abschnitte über. Der Vorteil ist, dass man direkt loslaufen und auch über das Tal absteigen kann, in dem sich unsere Alm befindet. Da er aber doch sehr markant ist, trifft man auf einige Gruppen beim Auf- und auch Abstieg. Darauf habe ich wiederum keine Lust, denn ich suche ja die absolute Ruhe.
Eine Entscheidung muss getroffen werden. Auch wenn es sich nicht zu hundert Prozent überzeugend anfühlt, entscheide ich mich für den Hausberg. Es ist wunderbar, dass ich keinen Bus nehmen muss. Und dass ich direkt bis zur Alm laufen kann, ohne vorher nochmal unseren Hof zu kreuzen. Im Inneren habe ich dennoch nicht so richtig Lust auf die Wanderung, irgendetwas hat mein Bauchgefühl dagegen.
Beim Aufstieg hole ich Schritt für Schritt Paare oder Väter mit ihren Söhnen ein. Immer mal wieder sehe ich vor mir neue Leute. Es ist also wie vermutet: oben werden sich dann alle treffen… und es sind gar nicht mal so wenige. Ab etwa 3.000 m muss man angestrengt nach dem Weg suchen, denn es geht durch ein Meer aus Geröll und Steinbrocken. Dazu kommt ein eisiger Wind, ständiges Auf- und Abziehen von dichtem Nebel, Durst und Anschlagen der Knöchel an den scharfen Kanten der Steine.


Ich fühle mich nicht gut. Es ist nicht die Höhe, die Kondition oder der Weg. Es ist meine Intuition, die sich meldet und sagt, dass ich gerade nicht das Richtige für mich tue. Mir ist eisig kalt, ich mag überlaufene Gipfel nicht… und dort oben ist dichter Nebel, warum sollte ich dorthin, wenn mein Inneres sich so dagegen sträubt?
Etwa 100 Höhenmeter unter dem Gipfel bleibe ich stehen. Schaue hoch. Schaue zurück. Schaue hoch. Schaue zurück. Der Kopf rast, der Engel auf der linken und der Teufel auf der rechten Schulter liefern sich einen ordentlichen Kampf ab.
» Was bist du bitte für ein Versager, wenn du jetzt so kurz vorm Ziel abbrichst!? «
» Ist es dir das wirklich wert etwas zu tun, was du gar nicht willst? «
» Jeder, der von deiner heutigen Wanderung weiß, geht davon aus, dass du diesen Berg erklimmst. Was hast du bitteschön erreicht, wenn du gar nicht oben warst? NICHTS! «
» Es ist nicht wichtig, was die anderen erwarten oder denken. Wichtig ist, dass du auf dich achtest und Dinge tust, die sich für dich gut und richtig anfühlen. «
Letztendlich bin ich umgedreht und nicht mehr aufwärts, sondern abwärts gegangen. Mit dem ersten Schritt kamen die Tränen. Sie waren so stark, dass ich den Weg nicht mehr klar erkennen konnte und wieder stehen bleiben musste. Sobald Menschen entgegenkamen, die auf dem Weg nach oben waren, habe ich die Wut auf mich selbst versteckt und die Tränen weggewischt. „Die werden insgeheim über mich lachen, mich als Versagerin sehen. Schließlich bin ich die Einzige, die so kurz vorm Ziel umdreht.“
Doch irgendetwas hat sich verändert. Mein Engelchen wird immer stärker und lässt den Teufel ganz verschwinden. Ich schaffe es aus dem beginnenden gedanklichen Abwärtsstrudel heraus und werde mir bewusst, dass es mein Leben ist.
Beim Abstieg ins Nachbartal mache ich auf einem großen Stein in der Sonne Halt: Brotzeit! Es steht mir zu, diese zu genießen, auch wenn ich den Gipfel nicht erreicht und die Erwartungen von den anderen nicht erfüllt habe.
Jetzt freue ich mich umso mehr auf die bevorstehende Ruhe. Denn auf dem Weg durch das Tal nach unten treffe ich keinen einzigen Menschen. Nur unzählige Murmeltiere und unsere Schafe und Rinder. Achso, Grashüpfer und Schmetterlinge natürlich auch 😌


Und endlich: nach etwa eineinhalb Stunden Abstieg komme ich an der Hütte an. Die Sonne scheint, das Wasser rauscht, der Bussard kreist. Ich mache mich sofort auf den Weg zum Mini-Teich, um all‘ den Schweiß abzuspülen. Etwa zwei Minuten stehe ich davor und starre das Wasser an. Denn die Überwindung ist sehr groß. Aber letztendlich siegt mein Bedürfnis nach Erfrischung und ich springe hinein. Sicherlich hat meine jahrelange Routine des Eiskalt-Duschens einen großen Teil dazu beigetragen. 😉
Jetzt ist es definitiv Zeit für ein kurzes Schläfchen. Ich schlüpfe in den Schlafsack und bin innerhalb von fünf Sekunden eingeschlafen. Wach werde ich durch Geräusche. Draußen sind Leute, die sich unterhalten. Und sie sind sehr nah.
Genau das habe ich befürchtet: „Zuhause“ (im Gasthof) wurde jedem erzählt, dass ich heute Nacht auf der Alm nächtige. Viele haben Witze gerissen und gesagt, sie kommen mal vorbei. Natürlich habe ich mitgelacht und wusste, dass es nur eine Floskel und nicht ernst gemeint war. Und doch muss ich jetzt feststellen, dass manche es wirklich ernst meinten. Denn zwei unserer Hausgäste stehen auf einmal im Türrahmen und fragen mich aus. „Na, warst du oben? Hast du’s geschafft?“ „Und du hast wirklich keine Angst allein hier draußen?“
Ich wollte dem Trubel entkommen. Den ganzen Tag absolute Stille haben. Denn meine Sinne sind durch die letzten Wochen komplett überreizt. Und selbst hier, an diesem idyllischen Ort, ist jemand da, der etwas von mir will.
Sie meinen es nicht böse, sie sind interessiert und vielleicht auch ein bisschen neugierig. Aber ich habe dafür gerade keinen Nerv mehr übrig. Ich sehne mich nach Ruhe, Entspannung, Zeit mit mir selbst und nach Dingen, die mir guttun. Sozial dauerhaft stark eingebunden zu sein ist wunderbar… und gleichzeitig sehr anstrengend. Zumindest wenn man eine hochsensible Persönlichkeit hat.

Jetzt ist es mittlerweile abends und ich genieße das Nichtstun. Was für ein enormer Fortschritt auf meinem Weg!
Die Ruhe, die Einsamkeit, das Allein-Sein (mit mir selbst), die Naturgeräusche und -gerüche. Ein bisschen lesen und schreiben, dem Wasser beim Talabwärts-Fließen zuschauen, das Gesicht der Sonne entgegen strecken. Das tut mir gut, so tanke ich neue Kraft. ☀️